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#gleichberechtigt

„Inklusion“ – wer profitiert davon?

Aufsatz der Gleichstellungsbeauftragten Dr. Zohreh Salali

Im Alltag wird der Begriff “Gesellschaft” sehr häufig benutzt, wahrscheinlich öfters als andere Begriffe und dennoch gibt es in der Soziologie keine klare und umschließende Erklärung für das, was eine Gesellschaft ausmacht.

Man spricht von archaischer Gesellschaft (bei archaischen Gesellschaften kann davon ausgegangen werden, dass sie mehr oder weniger interaktionsnah gebildet wurden, was bedeutet, dass sie sich fast ausschließlich unter Anwesenheit der Mitglieder einer Gemeinschaft, die sich sehr nahestanden, gesteuert haben - vgl. Luhmann 1989: Die Gesellschaft der Gesellschaft 576), der Mittelaltergesellschaft, bürgerlicher Gesellschaft, Industriegesellschaft, postmoderne Gesellschaft, Risiko- oder Erlebnisgesellschaft und so weiter.

Die Soziologinnen und Soziologen und Philosophinnen und Philosophen  tauschen sich seit dem Entstehen der Soziologie als Wissenschaft in unzähligen Abhandlungen und Theorien aus und arbeiten sich an verschieden diskursiven Debatten ab und die Wissenschaftlerinnen können sich immer noch nicht auf eine gemeinsame Erklärung einigen.

Die Definition der Gesellschaft gilt zugleich als disziplinkonstituierend (vgl. Baecker).

Wenn der Begriff Gesellschaft auch mit dem Begriff “Stark” oder “Erfolgreich”  konnotiert wird, dann wird noch deutlicher wie schwer es ist, die Gesellschaft zu definieren.

Gehen wir einmal von der Hypothese aus, dass wir wissen, was der Begriff “Gesellschaft” umfasst und uns darüber hinaus einig sind, was mit einer erfolgreichen oder starken Gesellschaft gemeint sein soll - Was aber macht sie stark und erfolgreich? Die Wirtschaft, das Militär, die kulturelle Vielfalt, die Industrie, die Kunst, die politische Stabilität, die individuelle Rechtssicherheit?

Vielleicht sind all diese Elemente notwendig, um von einer erfolgreichen Gesellschaft sprechen zu können.

In einem Punkt können die Soziologinnen sich sehr schnell einigen und das ist der, dass die Gesellschaft aus Menschen besteht und ihrer Art des Zusammenlebens und ihren Interaktionen.

Manche Rechtssoziologen wie Luhman sind der Auffassung, dass die modernen Gesellschaften weder auf Individuen noch auf Interaktionen zurückzuführen sind, gerade in einer globalisierten Welt.

Unsere Alltagslebensaktivitäten spielen sich in einem kleinen Rahmen und fern von den Weltereignissen ab - dennoch haben diese einen starken Einfluss auf unser Leben. (Vgl. Luhmann 1989, Seite 551 Gesellschaft der Gesellschaften.)

Moderne Kommunikation, weltweit agierende Institutionen, Bankensysteme, die die fiktive Wirtschaft befehligen, Kriege und Konflikte, die unmittelbare Einflüsse auf das Individuum haben, Krankheiten, die durch modernere Transportmittel nicht mehr regional einzudämmen sind, sind fern von uns und gleichzeitig mitentscheidend für unsere alltägliche Lebensgestaltung.

Hirschauer (1997) spricht von der „Bodenlosigkeit kultureller Phänomene“, weil sie sich nicht in begrenzten geografischen Gebieten und autark entwickeln und forcieren können.

Ich setze meine These auf die Interaktion als Baustein einer Gesellschaft und behaupte, dass das Individuum allein in prozessualer Interaktion herausgebildet wird und keine vorsozialen Entitäten feststellbar sind.

Mit Interaktion meine ich einen Wahrnehmungsprozess, in dem man unter Anwesenheit wahrnimmt, dass das “Wahrgenommene” wahrgenommen wird. Das heißt die psychische Information wird zum sozialen Phänomen. Die Wahrnehmung fungiert bei der Interaktion als „interne Umwelt“ (Luhmann 1989, 563).

Auf diese Weise ist innerhalb von Interaktionssystemen eine Intensivierung der Kommunikation möglich, für die es außerhalb von Kommunikation keine Äquivalente gibt“, so Luhmann.

Er geht in seiner Theorie von

  • reflexiver Wahrnehmung, die eine hohe Komplexität bei der Informationsaufnahme ermöglicht, die aber sehr vage ist

  • hohem Tempo der Informationsverarbeitung

  • geringer Negierfähigkeit und geringer Rechenschaftspflicht bei großer Sicherheit der Richtigkeit der Information

  • der Unterstützung auf der Ebene der indirekten Kommunikation, also gemeinschaftliche Identifikation mit bestimmten sozialen Phänomenen innerhalb eines geographischen Gebiets, sozialen Gefüges oder einer geschlossenen Einheit

    aus.

Habermas vertritt die Auffassung, dass die Menschen durch ihre technische Entwicklung und wissenschaftlichen Fortschritte die Natur unterworfen haben und sich aus deren Zwängen befreit haben.

Die moderne Wissenschaft und Technik werden aber als instrumentelle Vernunft zu einem destruktiven Instrument der Herrschaft der Menschen über Menschen. Der Mensch handelt primär durch Macht und Geld.

Die Idee der individuellen Mündigkeit und die Verneinungsmöglichkeit werden damit eingeschränkt und die Verständigung zwischen gleichberechtigten sozialen Individuen ist nicht ohne Diktat von Macht und Geld möglich.

Die Nähe zu Geld oder Macht - oder manchmal der vermuteten Macht -entscheidet über den individuellen Erfolg oder Misserfolg, Glück oder Unglück, Dominanz oder Unterlegenheit, etc.

Durch die modernen Medien bekommen die Menschen weltweit ähnliche Einstellung und es beflügelt die Phantasie der Einzelnen innerhalb der weltgemeinschaftlich rezeptierten Wahrnehmung von Macht und Geld, diese als einzig gültige Kommunikation zu akzeptieren und danach zu streben.

Habermas ist – und dies ist auch aus meiner Sicht richtig - der Auffassung, dass die normative Grundlage einer Gesellschaft sich in der Sprache widerspiegelt. Sie enthält die Potentiale einer zwanglosen und argumentativen Verständigung ohne Zwang, Druck, Abgrenzung, Einschüchterung und Angst.

Ebenso beinhaltet sie das Potential der Mündigkeit und Freiheit. Vorausgesetzt, dass eine kritische Distanz zu den gesprochenen Wörtern nicht durch verbale oder physische Abgrenzung, Gewalt und Einschüchterung negiert wird. Damit bekommen die Potentiale einen nach Innen und nach Außen gerichteten destruktiven Charakter.

In der modernen und globalisierten Welt okkupieren die Instrumente der Rationalität (Macht, Geld) immer mehr divergente soziale Bereiche und agieren als Handlungskoordinatoren weltweit mit einer unhaltbaren Dynamik.

Habermas hält es für denkbar, dass die Menschen sich dem Diktat der Instrumente der Rationalität (siehe einen Absatz höher) in unterschiedlicher Art und Weise widersetzen.

Er setzt auf eine „starke Ich-Identität“, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Menschen den gesellschaftlichen Normen nicht blind folgen, sondern durch eine diskursive Auseinandersetzung in eine mündige Position gelangen, so dass sie immer eine kritische Distanz zu ihnen zugeschriebenen Rollen im Auge haben.

Eine „starke Ich-Identität“ ist die beste Voraussetzung für eine kommunikative Kompetenz und damit auch für kommunikatives Handeln.

Für ihn bedeutet kommunikatives Handeln:

 

  • Wahrnehmung von konkreten Verhaltenserwartungen

  • Generalisierte Verhaltenerwartungen

  • Die wechselseitige Verknüpfung der sozialen Rollen mit Normen und das Prinzip der gegenseitigen Rechtfertigung

 

Seit den 70er Jahren ist eine neue Begrifflichkeit in unsere Sprache weltweit verbreitet: die Inklusion. Sie fordert die normative Grundlage der Gesellschaft heraus.

Sie fordert eine volle Teilhabe aller Menschen an allem kommunikativen Handeln der Gesellschaft.

Diese Forderung basiert auf den Aktivitäten der Behindertenbewegung in den USA.

Die meisten Menschen assoziieren mit der Begrifflichkeit “Behinderung” “Hilfebedürftigkeit”, “Diskriminierung”, oder positivistisch betrachtet “Mitleid”.

Die Rollenerwartungen und die Zuschreibungsmerkmale folgen dem vollkommenen Menschen, der unter dem Diktat der Instrumente der Rationalität (Geld und Macht, s.o.) funktional Handlungen perpetuiert.

Nach einem Umfrageergebnis einer Forst-Umfrage im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle zum Thema Behinderung werden an der ersten Stelle

  • Benachteiligung

  • Diskriminierung

  • spontan "Mitleid",

  • "Hilfe und Hilfsbedürftigkeit"

  • der Bedarf einer besseren Unterstützung.

erwähnt.

Wir denken und handeln nach wahrgenommen Rollenbildern und da, wo wir die “Vollkommenheit” eines Menschen nicht nach generalisierten Verhaltens­erwartungen feststellen können, betrachten wir das wahrgenommene soziale Phänomen als Abweichung und denken und handeln in wechselseitiger Verknüpfung der sozialen Rollen mit Normen und Prinzipien der gegenseitigen Rechtfertigung.

Wenn ein Mensch nicht auf zwei Beinen laufen kann, kann man bestimmte Rollen erwarten, z. B. “schwach”, und “Mitleiderweckend” und in einer Fremd-Referenz auch gleich von Diskriminierung durch Andere ausgehen.

Nach dem Motto ich habe “Mitleid”, aber die Anderen nicht. Dass das Mitleid auch positive Diskriminierung transportiert, ist nicht erkannt. Weil wir im Laufe der religiösen Sozialisation gelernt und verinnerlicht haben: “Gute Menschen” haben Mitleid mit “Schwachen”.

Damit behindern wir selbstbestimmtes Leben in der Gesellschaft für viele Menschen. Erst durch die Exklusion zwingen wir die Menschen sich gegen die aufgezwungene Rolle zu wehren und die Gesellschaft für ihre Bedürfnisse zu sensibilisieren.

Nicht sie sind behindert, sondern die ihnen zugeschriebenen Rollenerwartungen behindern sie.

Dadurch ist die Entwicklung einer „starken Ich-Identität für eine kommunikative Kompetenz unterminiert und eine mündige und gleichberechtigte Teilhabe verhindert”.

Die Debatte um die Inklusion ermöglicht uns in einer prozessual diskursiven Debatte der individuellen Mündigkeit und die Verneinungsmöglichkeit der gesamten Gesellschaft zu verstärken.

Alle Maßnahmen zielten bis jetzt auf die Integration der “Behinderten” ab und das bedeutete nichts anderes, als dass die Anstrengungen die Teilhabe der Ausgeschlossenen in eine geschlossene legitime und unveränderbare normative Einheit erleichtern sollten. Dabei handelt es sich nach wie vor um ein Verhältnis von Macht und Asymmetrie.

„Der normative Gehalt der Moderne eröffnet sich in einer kommunikativ ethischen Perspektive einer Vernunft, die sich auf sprachliche Strukturen stützt.

(Der philosophische Diskurs der Moderne, Habermas Frankfurt/Main 1985)

Habermas geht von einer rationalen Perspektive der Emanzipation allgemein aus und verbindet kommunikative Vernunft als Fortsetzung der Idee der Freiheit mit der Solidarität.

Habermas schreibt: Es gibt keine reine Vernunft, sondern eine handelnde Vernunft.

Die Sprache als normative Grundlage des Zusammenlebens lehrt uns wie wir miteinander leben. Dazu brauchen wir kommunikative Vernunft und verständigungs- orientiertes Handeln und das kann nur gemeinsam entwickelt werden.

Alle Maßnahmen sind notwendig um das Leben der Menschen zu erleichtern, aber wir brauchen eine grundsätzliche Debatte über und um ein mündiges und gleichberechtigtes Miteinander.

 

 

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