Gerechtigkeit und Gleichheit
Gibt es messbare Indikatoren für Gerechtigkeit und Gleichheit?
"Lebe ehrenhaft! Tue niemandem Unrecht! Gib jedem das Seine!"
Der römische Rechtsgelehrte Ulpian (170-223)
Jede und Jeder von uns hält sich für gerecht und strebt nach Gleichheit. Wir betrachten die beiden „Begriffe“ als Werte und normative Gegebenheiten, die erstrebenswert sind, und unserem Zusammenleben als allgemein gültiger Maßstab innewohnen.
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Diese Begriffe gelten als höchstes und edles Gut. Vielleicht stellen sie die Antwort auf die Zentrale Frage dar, die direkt nach den Fragen, woher wir kommen und wohin unsere Reise geht, steht.
- Diese Begriffe bestimmen selbst unsere Beziehungen und Interaktionen, da wo die materielle Existenz nicht vorhanden ist, stellt der Mensch sich vor durch Streben nach Gerechtigkeit und Gleichheit eine bessere Welt verwirklichen zu können.
So komplex und kompliziert wie die Wahrnehmung und Interpretationen von Gerechtigkeit sind, so kompliziert und komplex sind die Versuche, die Idee der Gerechtigkeit zu verwirklichen. Und noch schwieriger ist es, unsere Wahrnehmungen von beiden Begrifflichkeiten exakt für Andere zu definieren.
Das Ringen um die Substanz der Gerechtigkeit und um ihre Verwirklichung, bringt die Menschen dazu, sich auf fiktive und fantastische Vorstellungen auszurichten und durch aktive Handlungen wie Soziale Erschütterungen (Revolution), die mit der Hoffnung initiiert werden, dass danach alles gerecht wird, selbst ihre Existenz aufs Spiel zu setzen.
Die Menschheitsgeschichte gibt alles her: die Französische Revolution, die Russische Revolution, die islamische Revolution im Iran sind Beispiele aus der Geschichte. Die Menschen haben in unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlichen politisch-kulturellen Hintergründen blutige Aufstände forciert, ihr Leben riskiert, nur für ihre Idealvorstellung von Gerechtigkeit und Gleichheit.
Und das im Bewusstsein, dass sie selbst diese nicht mehr erleben könnten. Allein die Vorstellung von einer gleichen und gerechten Welt motiviert sie zu unglaublichen Aktionen. Die Ergebnisse von solchen Weltveränderungsbestrebungen kennen wir zu gut aus den Geschichtsbüchern
Woran liegt das?
Teilweise liegt es daran, dass wir die beiden Begrifflichkeiten abwechselnd benutzen, ohne dass es uns bewusst ist, was wir selbst damit meinen. Oft dann, wenn wir mittelbar von Ausgrenzung und Verhinderung bei der Erfüllung unsere Bedürfnisse betroffen sind. Die individuelle Betroffenheit wird in absolutistisch-sinnzentrierter Perspektive als allgemeingültiger Maßstab für Verstöße gegen die allgemeingültige Gerechtigkeit definiert.
Aber es ist wichtig, dass wir, wenn wir von Normen und Werten reden, die beiden Begrifflichkeiten besser voneinander unterscheiden.
Normen sind oft nicht geschriebene, aber allgemein akzeptierte gesellschaftliche Regeln, die wir zu beachten haben - zum Beispiel, wenn wir uns treffen, sich lächelnd begrüßen und Hände schütteln usw., während andere Gesellschaften diese Normen als befremdlich erleben und ihnen ablehnend gegenüberstehen. Oder dass wir mit Messer und Gabel essen und in der Öffentlichkeit Rülpsen und Schmatzen als sehr unmanierlich betrachten, während dies in anderen Ländern durchaus als Zeichen der wohlgemeinten Äußerung über die Kochkunst des Gastgebers zu verstehen ist. Alle diese Normen sind individuelle Haltungen, die wir gemeinsam als ungeschriebenen Vertrag akzeptieren.
Werte sind meist kollektiv und werden oft als Ideal, als Utopie und als erstrebenswerter Idealvertrag, als höchstes Glück verstanden.
Nicht umsonst ist die Debatte um und über Werte eine der grundlegenden Überlegungen der Philosophie.
Für Kant ist der Kategorische Imperativ die Grundformel, den Guten Willen als höchst anzustrebende Pflicht, die aus Vernunft und deren Prinzip zu entwickeln ist.
„Der gute Wille ist allein durch das Wollen gut.“
Er ist der Meinung, weil der Wille meist vernünftig ist, ist mein Handeln auch gut, für Kant war aber die Basis des Willens die Freiheit.
„Ich habe die Autonomie des Willens, d. h. ich bin frei. Ich bin kein Tier und kann deswegen Gebote festlegen und sie auch befolgen: Moral und Sittlichkeit haben ihren Ursprung in der Freiheit!“
Ohne, dass ich hier auf die Schwäche der Theorie des Kategorischen Imperativs eingehe, möchte ich behaupten, dass das Thema “Gerechtigkeit eine Kardinaltugend”, eine Begleitmusik menschlicher Geschichte ist.
Schon in alten Kulturen der frühen persischen ägyptischen und assyrischen Religionen war die Gerechtigkeit von einer göttlichen Weltordnung hergeleitet.
Dieser waren die Herrschenden verpflichtet. In verschiedenen Epen, wie Gilgamesch, oder Reliefen aus der Frühgeschichte ist dargestellt, wie göttliche Ordnung die Gerechtigkeit als Hauptaufgabe der Herrscher vorgibt und für welche Verstöße dagegen welche Bestrafung auf der „Anderen Seite“ der Welt auf sie wartet.
Interessant ist aber, dass die Begrifflichkeit “Gerechtigkeit” in der archaischen griechischen Gesellschaft (etwa 800 bis 500 vor Christus) sehr am Eigeninteresse orientiert war, wie aus dem Odyssee Epos zu vernehmen ist, wie jeder und jede situationsorientiert zu eigenen Gunsten handelt und nicht nach einer göttlichen Gesamtordnung.
Die Gerechtigkeit war sehr individuell auslegbar. Nicht ein göttlicher Gesamtplan war entscheidend für die Gerechtigkeit, sondern die individuellen Interessen.
Man sieht hier sehr frühe unterschiedliche kulturelle Entwicklungen.
Die erste philosophische Auseinandersetzung mit der Gerechtigkeit als Gesamtplan, als Teil der Weltordnung in der griechischen Gesellschaft kennen wir aus der Zeit der Sophisten etwa fünfhundert Jahre vor Christus. Einige von Ihnen haben Weltgeschichte gemacht. Sie haben alle die Gerechtigkeit mit unterschiedlicher Herangehensweise als natürliches oder gesellschaftliches Phänomen erklärt.
Der Philosoph Platon (427 - 347 v. Chr.) war selbst kein Sophist und dennoch vertrat er die Auffassung, dass „die Gerechtigkeit“ von Natur aus eine Bevorzugung der Stärkeren ist, mit der sie primär ihre Interessen sicherten.In seinem Buch „der Staat“ ("Politeia") nimmt er die Gesellschaft in Fokus und meint, dass die Gerechtigkeit für die Harmonie der menschlichen Seele verantwortlich ist.
Nach Platon muss es eine Balance zwischen den drei Teilen der menschlichen Seele geben (dem begehrendem Teil, dem muthaften und dem denkenden).
Ebenso ist in der Gesellschaft eine Balance zwischen den drei wichtigen Teilen der Gesellschaft nötig - zwischen den Kriegern (die Tapferkeit), den Philosophen und Herrschern (die Weisheit und die Besonnenheit) und den Handwerkern und Bauern (die Tugenden).
Nur durch die Gerechtigkeit, als vierte und höchste der sogenannten Kardinaltugenden werden alle anderen Teile geeint und ein Staat zu einem vernünftigen Ganzen amtiert. Selbstverständlich gelten die Kardinaltugenden für Männer - “Frauen sind das Ergebnis einer physischen Degeneration des Menschen. Nur Männer sind direkt von den Göttern geschaffen und haben eine Seele. Die Gerechten kehren zu den Sternen zurück, aber von den Feiglingen und Ungerechten kann mit Recht angenommen werden, dass sie in der zweiten Generation in die weibliche Natur übergehen."
Aristoteles wird konkreter und meint, dass die Gerechtigkeit die “Beste aller Tugenden" sei und als Anzeichen dafür beschreibt er die besonderen Aspekte der Verteilung von Ämtern und Besitztümern und des angemessenen Ersatzes für veräußerte oder beschädigte Besitztümer. Selbstverständlich dürften nach Griechischem und römischem Recht nur die Männer Besitztümer sein.
„Frauen sind unfruchtbare Männer. Die Frau ist durch ihren Mangel an natürlicher Wärme unfähig, ihren menstruellen Ausfluss bis zu jenem Punkt der Läuterung zu bringen, wo er zum Samen würde. Ihr einziger Beitrag zum Embryo ist daher der Körper und ein 'Acker' auf dem es wachsen kann. Ihre Unfähigkeit, Samen zu produzieren, ist ihre Mangelhaftigkeit. Der Grund für die Dominanz des Mannes in der Gesellschaft ist seine höhere Intelligenz. Nur der Mann ist ein vollständiger Mensch. Die Beziehung zwischen Mann und Frau ist von Natur aus derartig, dass der Mann über der Frau steht, dass der Mann herrscht und die Frau beherrscht wird"
In späterem Christentum bekommt der Begriff Gerechtigkeit eine göttliche Weltordnung mit einem Gesamtplan.
Der Kirchenvater Augustinus (354-430) war der Meinung, dass der göttliche Gesamtplan durch die Erbsünde mangelhaft geworden sei. Die Gerechtigkeit auf der Erde bleibt unvollkommenen, die wahre Gerechtigkeit ist nur himmlisch. „Auch kann nicht bezweifelt werden, dass es eher der natürlichen Ordnung entspricht, wenn der Mann über die Frau herrscht, als umgekehrt die Frau über den Mann. Mit diesem Prinzip vor Augen sagt der Apostel: "Das Haupt der Frau ist der Mann" und "Frauen, ordnet euch euren Männern unter". So schreibt auch der Apostel Petrus: "Auch Sarah gehorchte Abraham und nannte ihn 'Herr' " Augustinus, Über die Sinnlichkeit, I. Buch, Kap. 10.
Das Bestreben nach Gerechtigkeit auf der Erde war eine Thematik, die in unterschiedlichen Zeiten die Theologen und Philosophen beschäftigt hat - die christliche Lehre der Ethik befasst sich ununterbrochen mit dem Begriff Gerechtigkeit.
Thomas Hobbes (1588-1679) setzt sich in seinem Buch (Leviathan or the Matter, Forme and Power of a Commonwealth Ecclesiastical and Civil) damit auseinander, dass der Mensch nicht individuell in der Lage sei, gerecht zu werden, weil er durch seinen natürlichen Überlebenstrieb keinen freien Willen besitzt und er schreibt seinen berühmten Satz: Der Mensch sei "des Menschen Wolf". Nur ein starker Staat, eine absolute Macht, kann zwischen Menschen Frieden schaffen und allen Interessen gerecht werden, eine Rechtsordnung für Gerechtigkeit etablieren. Der Preis dafür ist die individuelle Freiheit.
Im Gegenteil zu Hobbes vertrat der Schweizer Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), dass die Gerechtigkeit den Schutz des individuellen Eigentums und der Garant für den Rechtsschutz der Reichen gegenüber der Armen bedeute. Durch einen Gesellschaftsvertrag verpflichten sich alle Bürger dem gemeinschaftlichen Willen der Mehrheit und das sei das Fundament des Gesetzes. Er war der Auffassung, dass das Streben nach Gerechtigkeit und Gleichheit eine angeborene Eigenschaft aller Menschen ist.
Die moderne Debatte über und um die Gerechtigkeit ist zunehmend erweitert. Es wird immer deutlicher und klarer, die Teilung der Ämter und materiellen Ressourcen gefordert.
Der amerikanische Philosoph, John Rawls(1921-200), war sich sicher, dass soziale Ungleichheiten und die Verteilungsungleichheiten nur durch das Recht auf größtmögliche Freiheit für alle auf die Institution abzuschaffen sei, und somit die institutionelle “Willkür” verhindert werden könne. Dazu müsse man den “Schleier des Unwissens” entfernen. Durch UNWISSEN können grundsätzliche Entscheidungen über andere so fingiert werden, dass eine Gleichheits-Situation immer verhindert bleibt.
Deshalb fasste der deutsche Philosoph Habermas seine Theorien über die Gerechtigkeit als Diskursethik gesamtgesellschaftlicher Entscheidungsprozesse auf.
Im Idealfall sollen sich alle Beteiligten durch einen offenen Diskurs und Argumente und Gegenargumente verständigen und sich in die Lage der Anderen versetzen und aus deren Perspektiven einen Konsens finden. Das sei der einzige Weg die Gerechtigkeit als übergeordnetes Prinzip zu etablieren.
Gegen Argumentationsaustausch ist vordergründig nichts zu sagen. Die Frage stellt sich aber sofort, wie sollen Argumente ausgetauscht werden, wenn Teile der Gesellschaft, wie das Geschlecht, über Jahrtausende die Dominanz über alle Ämter und Ressourcen innehatten? Und das andere Geschlecht nie das historische Gedächtnis über Institutionelle Macht-Instrumente besaß, geschweige in unterschiedlichen Situationen in der Lage war, diese für eigene und andere Interessen einzusetzen. Wenn die Instrumente nicht bekannt sind, wenn die Verbindungswege und Prozesse nicht vertraut sind, entsteht automatisch auch bei Diskursdebatten eine Asymmetrie zwischen einem historisch gewachsenen und etablierten und variationsreichen Gedächtnis einerseits und einem Gedächtnis, das alles in Kürze mühselig erlernen muss und mit allen Hindernissen zu kämpfen hat.
Wie soll eine diskursive Verständigung möglich werden, wenn Geld und Macht (Rationalitäts-Instrumente) in einer so dynamischen Ungleichverteilung ist und die Besitzer der Rationalitäts-Instrumente ihre Besitztümer mit allen Mitteln zu verteidigen wissen, - an erster Stelle durch fiktive Geldzirkulation ohne reale Kontrollmöglichkeiten - bei zeitgleichem Wachstum der ungleichen Verteilung des Wissens darüber. Resultierende Unsicherheit behindert eine kommunikative Kompetenz.
Neben einer Diskursethik brauchen wir andere Instrumente!