Schmökern in Frontberichten aus dem Stadtarchiv
Das ist nicht das einzige Erstaunliche, was Studierende zusammen mit interessierten Bürgerinnen und Bürgern der Lesegruppe historische Selbstzeugnisse des Lehrstuhls für Europäische Ethnologie / Empirische Kulturwissenschaft der Universität Würzburg aus den Feldpostbriefen des Soldaten Schmidt, den Zuhörern beim Leseabend „Briefe aus dem 1870/71er Krieg“ vorstellen. Denn Schmidt, der gleich zu Anfang des Krieges an die Front kam, schildert erstaunlich offen wenn auch romantisierend das Kriegsgeschehen aber auch Details aus dem Leben in Frankreich mit allen seinen Vorzügen aber auch Nachteilen.
79 Feldpostbriefe an seine Würzburger Verwandtschaft sind von dem Offizier erhalten und wurden von der Lesegruppe aus der Kurrentschrift in die heutige Schrift transkribiert. „Diese Briefe sind Alltagsschriftgut, sie geben heute über das Leben des Schreibers und seiner Zeitgenossen Auskunft“, erläutert Prof. Dr. Michaela Fenske, Inhaberin des Lehrstuhls für Europäische Ethnologie/Empirische Kulturwissenschaft. In einer Kooperation mit dem Würzburger Stadtarchiv transkribierte die Lesegruppe die Briefe. „Diese Zusammenarbeit bringt Leben in die Geschichte – das ist wichtig, denn Geschichte geht weiter“, bedankt sich Fenske bei Sabrina Zinke, stellvertretender Leiterin des Stadtarchivs, die die Kooperation betreut und den Leseabend organisiert hat.
Zehn Feldpostbriefe stellen Studierende und weitere Mitglieder der Lesegruppe an diesem Leseabend der Öffentlichkeit vor. Stück für Stück machen sie dabei diesen Krieg erlebbar. Schmidt, der sich selbst meist nur Hans nennt, schreibt ganz im deutschen Nationalstil, wie die Franzosen feuern, jedoch die deutschen Truppen verfehlen, schwadroniert über die schlechten Zigarren, die ihm geschickt wurden und die aus einem fürchterlichen Kraut gemacht sind, beschreibt die französische Landschaft und Gärten.
Schmidt lässt seine Verwandten aber auch teilhaben, wie es ihn berührt, wenn ein Freund stirbt und er über den Verlust weint. Oder auch wie sein Opium, das er von zu Hause mitbekam, für andere Verletzte als Betäubungsmittel genutzt wurde. Anfangs beschreibt Schmidt auch die militärische Lage detailliert, beispielweise, wie sechs Schritte hinter ihm eine Granate explodiert, er aber glücklicherweise nur die aufspritzende Erde abbekommt. Mit der Zeit greift aber die Zensur, denn schon bald schreibt er nach Hause, dass Truppenbewegungen nicht mehr beschrieben werden dürfen, da viele an Zeitungen übergeben worden seien.
Während das Erlernen von Lesekompetenz historischer Schriften für die Studierenden ein Teil ihres Studiums ist, beteiligen sich die die anderen Mitglieder der Gruppe aus den unterschiedlichsten Gründen. Eine Teilnehmerin stöbert gerne in alten Dokumenten, einen anderen Vorleser verbindet der eigene Großvater mit dem Briefeschreiber – denn auch der war im Feldzug 1870/71, wenn auch nicht in derselben Einheit wie Hans Schmidt.
Etwa 12 Monate lang durchstöberte die Gruppe die Feldpostbriefe des Würzburgers. Dies ist dabei nicht das erste Projekt dieser Art. Seit 2020 erschließt die Gruppe unter der Leitung von Fenske und ihrer Kollegin Dr. Susanne Dinkl in Zusammenarbeit mit regionalen Institutionen immer wieder neue Quellen und macht sie so für eine breite Öffentlichkeit, aber auch intensivere Forschungen zugänglich (vgl. https://www.phil.uni-wuerzburg.de/eevk/transfer/lesegruppe-fuer-buergerinnen-und-studierende/).
Nach dem Dornröschenschlaf der Briefe in den vergangenen Jahren im Archiv übergab die Lesegruppe nun die digitale Transkription an das Stadtarchiv. Mit diesem Projekt ist es gelungen, „diesen kleinen Schatz der Würzburger Lokalgeschichte zu erschließen und den Würzburgerinnen und Würzburgern zugänglich zu machen“, freuen sich Zinke sowie die Europäischen Ethnologinnen Fenske und Dinkl auch auf weitere Projekte.
